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Erinnerung an Herrmann Kant

Ich habe ihn nun schon mehrfach hier im Blog gewürdigt, den vor kurzem gestorbenen Schrifsteller Herrmann Kant. In der Oktoberausgabe des „Rotfuchs“ fand ich diesen, mir bisher unbekannten Aufsatz:

Wie mir der Antifaschismus aufgezwungen wurde

Hermann Kant
Als das neue Jahr begann, tat ich, was man tut, wenn neue Jahre beginnen. Ich nahm mir vor, Bisheriges nicht fortzusetzen, sondern mich zu ändern. Weil aber schier unübersehbar war, was der Wandlung harrte, suchte ich, Muster ins Geröll zu bringen, nach einem System, und entschied mich für jene hergebrachte Regulierung, die sich aus dem Alphabet ergibt.

Die Folge war, daß ich gleich auf das Wort Antifaschismus stieß, von dem man mir seit längerem schon sagte, es bezeichne einen Wert, in dessen Besitz ich auf dem Verordnungsweg gekommen sei. Im Zuge staatlicher Verordnungen. Als Wirkung eines Staates, den es im Grunde nicht hätte geben dürfen.

Gewillt, mich von Lasten zu befreien, die mir aufgezwungen worden waren, faßte ich meinen Antifaschismus prüfend ins Auge, und sah sehr bald, wie recht man über ihn sprach. Es handelte sich tatsächlich um eine verordnete Geisteshaltung. Wenngleich die DDR nicht allein die Verordnerin gewesen ist. Vor ihr waren andere tätig, uns Antifaschismus aufzuzwingen. Als tätigsten Haupttäter machte ich den Faschismus aus.

Die zweisilbige Vorsilbe Anti- ist bekanntlich das griechische Wort für das deutsche Wort Gegen-, und der Gebrauch beider setzt voraus, daß etwas da sei, zu dem sich etwas anderes konträr verhält. Mithin darf der Antifaschismus schon aus Gründen der sprachlichen Logik vom Faschismus sagen: Er hat aber angefangen! Auch wenn man es nicht in diesem oftmals kindischen Sinne meint, hat er angefangen. In der Geschichte, die ja aus Abfolgen und Folgen besteht, war der Faschismus einfach vor dem Antifaschismus da.

Wer nach Verdiensten sucht, hier wäre eines: Der Faschismus hat das historische Verdienst am Entstehen des Antifaschismus. Der eine hat den anderen geradezu herbeigezwungen. Um nicht zu sagen, verordnet. Da es zu den Zwängen der nunmehr freien Welt gehört, daß man von DDR nicht reden darf, ohne zu nennen, was alles sie entgegen ihren Behauptungen gewesen oder nicht gewesen sei, will auch ich ihr am Zeuge flicken: Sie hat den Antifaschismus weder erfunden, noch war sie dessen Erstverordnerin. Was sich auch aus dem Umstand ergibt, daß sie unter antifaschistischen Vorzeichen errichtet wurde. Unter Zeichen, die bereits vorhanden waren. Danach erst konnte sie besagte Haltung mittels staatlicher Gewalt unter die Leute bringen. Man könnte meinen, sie sei ohne den Faschismus gar nicht ausgekommen. Und wollte man diesen schelten, ließe sich zeigen, wie schuld am Zustandekommen der DDR er doch war. Da hat man die vielberufene Komplizenschaft.

Ganz unvorbereitet freilich trafen uns die Dekrete des Staates nicht, mit denen er seine Doktrin zu Umlauf und Wirkung brachte. Denn Wörter und Bilder, Erfahrungen und Ahnungen hatten sich unserer schon vorher angenommen, sprangen mit uns um, zwangen uns, Farbe zu bekennen, preßten uns zu Einsichten hin und ließen uns kaum eine Wahl.

Warschauer Ghetto, Mai 1943

 

Wörter wie Galgen und Ghetto, Fallbeil, Rampe und Block; Orte wie Buchenwald, Moabit und Sachsenhausen, wie Birkenau und Theresienstadt; Namen wie Eichmann, Mengele, Höß und Freisler, ein Name wie Himmler, ein Name wie Hitler; Plätze wie Lidice, Babi Jar und Oradour oder wie Stalingrad, Leningrad, Coventry und Warschau oder wie Monte Cassino, El Alamein, Kursker Bogen und Omaha Beach; Vokabeln wie Arisierung und Gasmaske und Gaskammer und Marschbefehl und Rassenschande und Fliegeralarm und Euthanasie und Fremdarbeiter und KAZETT; Partizipien wie verschleppt, vermißt, verhungert, vergast, verbotenverbotenverboten – all dies hat so sehr ein Geschrei gemacht, daß es nicht aushaltbar war, und es empfahl uns den Antifaschismus auf eine Weise, die man, wenn nicht Nötigung, so doch Verordnung heißen könnte.

Abgefeimt, wie man sie kennt, sorgten Inhaber der Macht, daß selbst an unschuldigsten Orten kein Entkommen war vor dem, was Schuld geheißen wurde – Kindergärten benannte man nach einer wohl hingerichteten Frau Niederkirchner, Schulen nach einem wohl geköpften Herrn Guddorf, und wie freundlich krumm und lindenbesäumt ein Kleinstadtgäßchen auch sein mochte – im Staate DDR war es vor der Gefahr, eines Tages per Verwaltungsakt zur Geschwister-Scholl-Straße ernannt zu werden, niemals sicher. Und nie ganz sicher blieb unsereins vor der verordnenden Kraft von Bildern, Tönen und Berichten.

Mich zum Beispiel haben ein paar Fotos geradezu in den Antifaschismus hineingeprügelt. Jenes etwa, auf dem ein Kerl mit Stahlhelm und Karabiner einen Zehnjährigen über die Straße treibt – der Junge hebt die Hände wie ein Alter. Oder die Bilder der Frauen, die nackt sind und gleich tot sein werden. Oder der Mann am Rande der Grube, auf dessen dürren Nacken ein gleichmütiger Henker vor uniformiertem Publikum zielt. Oder diese ganz anderen Blicke aus Waggonluken, von Barackenpritschen und durch Lagerzäune. Oder Ossietzky, den schwarzgewandete Herablassung beglotzt. Thälmann beim Hofgang. Witzleben, der sich vorm Volksgerichtshof an seine Kleider klammert. Oder vom Volkssturm der weinende Bengel. Oder der Knabe, der seinen ausgemergelten Arm zeigt, auf dem die Nummer kaum Platz gefunden hat. Des Reichsministers vergiftete Kinder, ja doch, auch die. Oder das Kind Anne Frank.

Gewalttätige Bilder allesamt, vor denen ich Rettung im Antifaschismus fand. Aber vielleicht war ich zu empfindlich. Ließ mich beeindrucken von Büchern, die „Nackt unter Wölfen“ hießen oder „Das siebte Kreuz“, von Filmen mit harmlosen Titeln wie „Die Verlobte“ und „Mama, ich lebe“. Ließ mich bedrängen vom rücksichtslosen Cremer und vom einschneidenden Busch. Oder von Brecht & Co. Ließ mir deren Antifaschismus andrehen und übersah, daß Verlage und Plattenpressen, Filmfabriken wie Bühnenbretter dem Staat gehörten und somit nur Mittel zu dessen antifaschistischen Zwecken waren.

Auch ist in Anschlag zu bringen, daß dieser Staat beim Verordnen auf eine gewisse Stimmigkeit zwischen seinen Behauptungen und meinem Erleben achtete. Den Krieg beschrieb er, wie ich ihn kannte. Und was er vom faschistischen Frieden wußte, wußte ich längst. Mir hat der Staub von Warschaus Ghetto bis an die Knöchel gereicht. Ich zog in Hütten ein, deren Vorbewohner nach Majdanek verzogen waren. Weil es sich ans ganze Deutschland nicht halten konnte, hielt sich Polen an mich als einen Teil davon. Da mußte mir später das halbe Deutschland nicht mit Verordnungen kommen. Da soll man mir von verordnetem Antifaschismus so wenig wie von verordnetem Atmen reden. Oder von unserer Geschichte, wie mancher sie möchte. Sie fand als Antwort auf Geschichte statt und war schon deshalb nicht gänzlich ohne Sinn.

Hermann Kant (1993)

 

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