Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu Bestehen aufgehört. Geleitet von dem Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker und erfüllt von dem Wunsche, die weitere Wiederherstellung des politischen Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage zu sichern, erläßt der Kontrollrat das folgende Gesetz:
Artikel I
Der Staat Preußen, seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst.
Das Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25.02.1947 war die Grundlage der Auflösung Preußens. Übrigens der einzige deutsche (Klein)Staat, für dessen Auflösung es eines solchen Gesetzes bedurfte. Lag der Grund für diese Mühe der Siegermächte des II. Weltkrieges tatsächlich darin, dass Preußen „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion“ war? Oder ging es vielmehr darum den preußischen Staat aufzulösen, weil sich sein Territorium praktisch über alle damaligen Besatzungszonen erstreckte? Das man ein politisches Gebilde, dass ja durch die Ergebnisse des II. Weltkrieges tatsächlich „in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört“ hat, eines separaten Gesetzes zur Auflösung für Wert befunden hat, ist immerhin eine bemerkenswerte Sache.
Ich selbst bin aufgewachsen mit den Eckpunkten dieser Definition, Preußen der Inbegriff von Militarismus und Reaktion. Eine kurze Phase des Fortschritts gab es allerdings auch in diesem Staat und eine der Keimzellen dieser Bewegung war die Armee. Gemeint ist die Zeit der Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich. Männern wie Gneisenau, Blücher, Scharnhorst oder Boyen gedachte man auch in der DDR als „fortschrittlich“, ja sogar „revolutionär“. Die höchste militärische Auszeichnung war der Scharnhorstorden, Kampfhubschraubergeschwader trugen die Namen Schill bzw. Lützow und dem Vernehmen nach gab es auch ein Blüchermedaille für Tapferkeit (da nur für den Krieg vorgesehen, gab es zum Glück keine Verleihungen).
Ich stellte mir schon sehr früh die Frage, woher diese Männer kamen. Waren sie doch Offiziere jener Armee. die per heutiger Definition zutiefst reaktionär und fortschrittsfeindlich war. Sie hatten viele Jahre in ihr gedient, waren durch den Dienst geformt und erzogen worden. Und wohin verschwand dieser fortschrittliche Geist in Preußen und seiner Armee nur wenige Jahre später?
Das Bild der preußischen Armee, das mir vermittelt wurde, ist geprägt vom „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. und seinem Sohn, dem als der „Große“ in die Geschichte eingegangene Friedrich II. Während der Vater den preußischen Staat und seine Armee reformierte, setzte Friedrich diese Instrumente ein, um Preußen zur europäischen Großmacht werden zu lassen. Nach diesem Bild sind die Erfolge Friedrichs auf den Schlachtfeldern ausschließlich darauf zurückzuführen, dass seine Soldaten durch ein System brutalsten Zwangs und unmenschlichen Drills zu willenlosen Kampfmaschinen gemacht wurden. Ohne eigenen Willen, nur durch den Stock und der Aussicht auf noch härtere Strafen wie dem Inbegriff des preußischen Militärstrafrechts, dem Spießrutenlauf, gezwungen, wurden sie auf das Schlachtfeld getrieben. Das der Vergleich mit anderen Armeen der Zeit und ihrem Disziplinarrecht ein solches Alleinstellungsmerkmal nicht zulässt, findet bei dieser Betrachtung keine Berücksichtigung …
Während meiner Militärzeit kamen erste Zweifel und Widersprüche zwischen der offiziellen Darstellung und der Realität wurden deutlich. In der Ausbildung wurde uns angehenden Offizieren immer wieder die Rolle des „menschlichen Faktors im Kriege“ verdeutlicht. Nur so sind militärische Erfolge zahlenmäßig unterlegener oder deutlich schlechter ausgerüsteter Armeen gegen einen überlegenen Gegner erklärbar.
Beispiele für diese wichtige Rolle des Menschen, des Soldaten finden sich in der gesamten Militärgeschichte bis heute. Beispiele dafür finden sich auch in der preußischen Miltärgeschichte. In der Schlacht von Leuthen am 05.12.1757 während des Siebenjährigen Krieges schlugen 29.000 Preußen 66.000 Österreicher. Etwa die Hälfte der preußischen Truppen hatte in den Wochen zuvor empfindliche Niederlagen gegen eben diese Österreicher hinnehmen müssen. Die betroffenen Truppenteile lösten sich aber nicht auf, sondern waren in der Lage, einen bedeutenden Beitrag zum Sieg bei Leuthen zu leisten. So etwas ist mit willenlosen, nur durch brutalste Strafen disziplinierte Soldaten nicht möglich.
Ausgehend von solchen Überlegungen begann ein langer Weg der Suche. Als Ergebnis weise ich heute nicht selten auf meine preußische Herkunft hin und habe kein schlechtes Gewissen dabei. Geschichte wird von den Siegern geschrieben meinte Napoleon Bonaparte. Es ist Sache jedes Einzelnen die „Schulbuchgeschichte“ als absolute Wahrheit hinzunehmen oder sich selbst mit den Fakten zu beschäftigen …